Montag, 2. Mai 2011

Novo Airao, 21.April








Die Autoschlange im Fährhafen von Manaus sei heute so lange wie noch nie zuvor, berichtet mir der Hotelbesitzer, ein Deutscher, verheiratet mit einer Brasilianerin. Er hat das Hotel vor kurzer Zeit von einer deutschen Familie in fünfter Generation übernommen. Seit gestern warte ich in Novo Airao, auf den Ansturm der Leute aus Manaus, denn alle wollen an diesem Wochenende ins Grüne, genau wie bei uns in der Schweiz. Auch ich. Allerdings nicht um dem Trubel zu entfliehen - Manaus wird in den Ostertagen wie ausgestorben sein - doch weil ich mich in menschenleeren Städten unsicher fühle. Auch etwas Deprimierendes haben sie, das habe ich letzten Sonntag in Manaus gespürt.

Erinnerungen an die Herbstferienwoche in China. Damals bin ich auch im letzten Moment in ein kleines Städtchen geflohen und habe dort mit aller Mühe noch ein winziges Zimmer gefunden. – Dies immerhin ist für mich in Brasilien günstiger. Brasilianer scheinen ebenso wenig wie ich voraus zu planen und Reservationen zu machen. Gestern Abend sind gerade einmal zwei Brasilianische Familien angereist, Novo Airao, 17'000 Einwohner, Tendenz steigend, die neue Strasse, ein neuer Fährhafen ist im Bau, liegt immer noch recht verlassen da. Heute Morgen erst strömen vermehrt Touristen aus Manaus ein, der Ort ist nun mit dem Auto erreichbar und damit für die städtische Mittelklasse interessant geworden. Leute im Schwimmbad, Musik auch, doch noch habe ich genug Ruhe, um auf der Terrasse mit Blick auf den Rio Negro und die Anavilhanas-Inseln zu schreiben.
Bereits gestern Morgen um sechs Uhr früh habe ich in Manaus den Autobus bestiegen. Zusammen mit alten Frauen, viele mit Indianischem Aussehen, die von ihren Kindern zum Bus gebracht wurden. Einige davon sind wirklich alte und erstaunlich resolute Wesen, doch viele, das fällt mir in Brasilien auf, sind Frauen mit einem knackigen Körper, den sie auch freizügig zeigen, und einem wenig dazu passenden Gesicht, das um Jahre älter erscheint. Ich frage mich nun, ob die Köpfe zu alt erscheinen oder ob der Körper hier länger jung bleibt. Neben mir sitzt eine Frau mit gräulich strähnigem Haar und Brille. Sie hat eine Bibel in der Handtasche und ein Gesicht wie eine Betschwester und die Haare zu einem Rossschwanz zusammen gebunden. Und ein T-Shirt mit offenherzigem Ausschnitt und enge Leggins und auffällig verzierte dunkelrote Fingernägel. Auch Tätowierungen sind in Brasilien extrem beliebt.

Auf dem Busticket steht zwar eine Sitzplatznummer, doch – ganz im Gegensatz zu China – kümmert sich überhaupt niemand darum. Da ich mein Busticket am Vortag gekauft habe, bin ich die Erste, die den Bus besteigt. Ich wähle mir den besten Sitzplatz aus. Freier Platz für die Beine und freie Sicht durch die Frontscheibe. Der Bus lädt schon wenige Meter nach der Station erneut Leute auf. Und wird über die ganze Strecke, die man jetzt eigentlich in zwei Stunden schaffen könnte, immer wieder Menschen aufladen oder irgendwo, bei einem Tor in einem Zaun am Strassenrand, wieder ausladen. Das ganze Gebiet auf der Westseite des Rio Negros ist recht dicht besiedelt, vor allem Viehfarmen, Grossgrundbesitz.

Nein, so einfach sei das nicht mit dem Gemüse hier, meint der Hotelbesitzer, wenige unserer Gemüse würden das feuchtheisse Klima vertragen. Zu viel Regen. Trotzdem, in Peru ging das. Vielleicht nicht genau die gleichen europäischen Gemüse, doch etwas wächst hier bestimmt. Doch die Brasilianer bevorzugen das Fleisch.

Fischhäute und Vogelhäute - wie komme ich dazu? In einer Ausstellung am INPA sehe ich, dass man nach neuen Techniken sucht um Fischhäute zu verwerten. Offensichtlich kann man auch die zu Leder verarbeiten. - Fisch ist hier übrigens gut, überhaupt habe ich mich etwas früh über das brasilianische Essen beklagt, schlechter als in Peru sind die Strassenimbissbuden, amerikanisiert, Frites, weitere Fettgebäcke, Hamburgesa, einzig die Fleischspiesse, sind sensationell gut und billig. - Die Vögelhäute wiederum, das habe ich gelernt, die kann man abziehen wie Felle bei Säugetieren. Weshalb hat sich noch nie ein Regent einen Papageien, oder – noch exquisiter – einen Kolibrimantel machen lassen? Schliesslich haben sich unsere Könige auch mit Hermelinbesätzen, also zusammengestückelten Fellen von Kleintieren geschmückt.

Im Zentrum von Manaus kann man praktisch alles kaufen. Kleider, Schuhe, Elektronik, Haushaltssachen, Möbel, nur Essen, das findet man schwer. Am Abend vor meiner Abreise nach Novo Airao gehe ich in den einzigen Supermarkt, der eine Frischwarenabteilung mit Gemüse, Käse und weiterem hat und eine gut assortierte Weinabteilung. Carrefour, ein französischer Supermarkt, das ist man sich schuldig. Ich will eine Weinflasche und etwas zum Essen kaufen für den Abschiedsabend mit Enzo und Jobao. Anstehen muss man bereits in der Mitte des riesigen Ladens, die Leute machen das erstaunlich diszipliniert. Zuerst also quer durch den Laden, dann in abgesperrten Kehren bis zu den Kassen. Ich warte bestimmt eine halbe Stunde, die Leute scheinen das normal zu finden, ich will erfahren, wie man hier lebt.
Stunden meint der Hotelbesitzer, müsse man teils auf das Fährschiff warten, das ans andere Ufer des Rio Negro fährt, dorthin, wo die Strasse, die bis nach Novo Airao geht, anfängt. Eine riesige elegante Hängebrücke ist im Bau, sie wird dieses Problem nächstens lösen. Und noch mehr Verkehr und bestimmt mehr Siedler in die Gegend locken. Der Urwald, der dort sehr reichhaltig sei, sei akut in Gefahr, meint Jobao. Gebaut wird viel, Siedler von weiter flussaufwärts, die nun der Zivilisation auch näher sein wollen, das Leben in abgeschiedenen Dörfern am Fluss, nur erreichbar mit Booten, scheint nicht mehr besonders attraktiv.

Novo Airao ist doch grösser, als ich zuerst gemeint habe. Es ist immer merkwürdig, wenn man irgendwo aussteigt und keine Ahnung von der Ortschaft hat. Dieses kleine Städtchen ist in meinem Reiseführer nicht vermerkt, ein Angestellter des Reisebüros im Hostal Manaus hat mir den Tipp gegeben. Etwas weniger überlaufen, als Presidente Figueiras, meinte er, da würde ich mich sicher wohl fühlen. Und Jobao erzählt mir, dort habe es Schiffswerften, wo die lokalen Boote gebaut würden. Das habe ich allerdings noch nicht entdeckt. Auch ist die Ortschaft nur halb so gross, wie Jobao gemeint hat, ich glaube, er hat das mit etwas verwechselt. Gestern Abend entdecke ich dann doch noch das Zentrum der Ortschaft, den Hauptplatz und die Kirche, aus der Stimmen und Gesang ertönen. Häufig die lebhaftesten Punkte einer kleinen Stadt, die Kirchen sind hier extrem aktiv. Aggressiv korrigiert mich der deutsche Hotelbesitzer.
Die Elektrizitätszentrale, lärmende, mit Erdöl betriebe Generatoren, befindet sich gleich vis-à-vis vom zweiten Dorfplatz in der Nähe des Flusses. Auch die meisten Poussadas, Hotels, haben sich gleich daneben angesiedelt. Auf dem Hangabbruch zum Rio Negro, der touristisch sicherlich attraktivsten Gegend. Der Lärm scheint die brasilianischen Touristen - hauptsächlich sie kommen hierher - jedoch nicht zu stören. Die Häuser der Ortschaft sind einerseits bunte Holzhäuser auf Stelzen. Wer aber genug Geld hat, der baut massiv. Genau wie in Belize. Überhaupt erinnert mich dieser verschlafene Ort, Leute, die aus den Fenstern schauen, sich an die Brüstungen lehnen, Leute die herumsitzen, in Hängematten liegen, hier hat man Zeit, irgendwie an Belize. Das ganze eingepackt in einen dichten, vor Feuchtigkeit triefenden grünen Pflanzenbewuchs, viel dampfender Raum zwischen den einzelnen Häusern. Die Luftfeuchtigkeit ist enorm hoch, doch des nachts kühlt es so stark ab, dass ich einfach die Türe zur Veranda öffne, Moskitogitter hat es, doch bisher waren die Mücken kein Problem. Das schwarze Wasser - vielleicht doch. Das sei nicht abhängig von einzelnen schwarzen Flüssen, meint der Amerikanische Ornithologe. Die grösseren Regionen seien massgebend. Richtung Venezuela eben diese mageren Böden, häufig leuchtet weisser Sand zwischen der Vegetation auf, alles extrem nährstoffarm. Schlecht für die lästigen Blutsauger.

Das Wissen, das man sich auf einer Reise aneignet – und immer wieder korrigieren muss. Auf dem Platz der Oper von Manaus, hier „Teatro Amazonia“ genannt, ist auch ein Ausstellungsraum mit moderner Kunst aus Amazonien. Der aktuelle Künstler macht Fotoarbeiten und Collagen, nicht alles interessiert mich, zu viel Photoshop, doch die Videoarbeiten finde ich faszinierend. Ein Video zu einer Schiffsfahrt. Gefilmt von einem Touristen, meint man erst, immer wieder schnelle Zooms auf Details, bis das ganze zu verwischen beginnt und sich in Linien auflöst. Wenn man aber näher hinschaut, dann merkt man, dass das technisch doch komplexer gelöst ist und nur so tut als ob. Faszinierend für mich ist vor allem, dass die Fahrt bei Niedrigwasser stattfindet, breite Sandbänke säumen den Fluss, viele Inseln ragen aus dem Wasser und – man sieht es erst kaum, Körper oder was? verschwommen sind die Bilder - auch abgerundete Felsblöcke, die bizarre Formationen bilden. – Und da wurde mir doch gelehrt, dass es im Amazonasgebiet keine Gesteine gäbe. Das stimmte vielleicht weiter oben, hier unten in der Gegend von Manaus bestimmt nicht mehr. Hier in Novo Airao bemerkt man auch besonders gut, dass die Gegend eigentlich überflutet ist und nur noch die Baumkronen aus dem Wasser ragen. 15 bis 20 Meter Unterschied zwischen Niedrig- und Höchststand, während rund 4 Monaten unter Wasser. Nur Pflanzenarten, die dies tolerieren, können hier überleben, eine ganz spezielle Vegetation.


Jetzt seien es seltene Metalle, meint Jobao, wegen denen der Urwald zerstört werde. Horden von Menschen würden an Orte ziehen, wo weitere Metalle vermutet werden. Rasch würden diese Goldgräberstädte wachsen, Prostitution, Kriminalität, wie im wilden Westen. Er frage sich manchmal, ob die Regierung diese Gerüchte absichtlich verbreite. Um damit die armen Teufel aus den Städten fort zu locken, wo sie nur Probleme bereiteten. Auf der Suche nach dem schnellen Glück, verschwinde manch einer, der nichts zu verlieren habe gerne.
Glück verheissen auch die vielen neuen Freikirchen, die sich erfolgreich verbreiten, selbst eine neue Mosche, prunkvoll mit Mosaiksteinen verziert, ist in Manaus im Bau.

Mein Zimmer in der „Poussada Bela Vista“ in Novo Airao hat mir erst nicht gefallen. Dunkel, alles in ungestrichenem Holztäfer. Haben da wohl die deutschen Siedler ihrer Heimat nachgeträumt? Jetzt finde ich es einen perfekten Ort um mich zu erholen, in Manaus habe ich ja ein wahnsinniges Schlafmanko aufsummiert. Das Zimmer hat eine Türe auf eine private Veranda mit zwei Schaukelstühlen. Doch auch von dort kommt nur Dämmerlicht, die Wedel zweier Bananenpalmen, etwas entfernt die Blätter eines Mangobaumes, das Haus steht auf Stelzen in einem Abhang auf Kronenhöhe, die dichte Vegetation verdüstert das Licht und erzeugt ein Dschungelgefühl. In der Hitze des Tages sehr angenehm.
Erkältungen, meint der deutsche Besitzer, die nähmen in den Tropen einen etwas anderen Verlauf. Nicht so heftig - dafür werde man sie wochenlang nicht mehr los. Etwas Schnupfen, etwas Halsschmerzen, Husten und Kopfweh, ich habe das bemerkt, auch meine Erkältung will nicht heilen. Das ist auch schwierig in einem Land, in dem die Leute von geschlossenen Fenstern und Klimaanlagen träumen. Bei jedem Besuch in einer Bank, einem grösseren Laden, einem Museum oder sonst einem öffentlichen Raum wird der verschwitzte Körper von einer Kühlschranktemperatur empfangen. Anfangs denke ich, dass ich das nicht aushalte, doch rasch gewöhnt sich der Körper daran - um dann beim Hinausgehen auf die Strasse von der Hitze niedergeworfen zu werden.

Um 10 Uhr abends, als ich zum Hotel zurückkomme, ist schon fast alles finster, noch drei Leute sitzen im Schwimmbad, die Bar ist verwaist. Offensichtlich sind die meisten Leute wie ich zu Erholungszwecken hierher gekommen, das hätte ich nicht erwartet. In der Ortschaft recht viele Menschen auf den Strassen, doch habe ich im allgemeinen das Gefühl, dass es Einheimische sind. Man kennt sich. Im Restaurant, wo ich Fisch esse, spielt eine Rockband, die Sängerin singt furchtbar falsch, das ganze tönt eher wie ein Soundcheque als wie ein Konzert und wird von den Gästen nicht beachtet. Viele gehen nach dem ersten Stück und die Sängerin macht ein schmollendes Gesicht. Vor der Kirche später nochmals Rockmusik, Kinder und Jugendliche tanzen auf der Bühne wie Showgirls. Und sind das nicht die Kirchenbänke im Sand auf dem Platz? - Ein freundlicher Herr bietet mir ein Glas Cola an. Von der Kirche spendiert, frage ich? Ja, von der „Igreja Pentecostal“ ergänzt er. Und stellt mir später seine Frau und seine wirklich auffällig hübschen Töchterchen vor. Eine Schweizerin habe es ebenfalls in ihrer Kirchgemeinde, meint er, die sei Morgen auch da, jeden Abend Konzert bis Sonntag. Halleluja.

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