Montag, 2. Mai 2011

Novo Airao, 22.April


Skizzen aus dem Leben. Manchmal weiss ich ja nicht recht, weshalb ich schreibe. Die Sinnfrage, immer wieder. Doch dann lese ich „die blaue Stunde“ von Alonso Cueto, einem peruanischen Autor, und weiss es. Aus vielen Bruchstücken beobachteten Alltags besteht dieses Buch, geschickt verknüpft durch eine spannende Geschichte. Doch diese Bruchstücke, diese Bausteine, das ist mir klar, die hat Cueto aus seinem Leben genommen. Irgendeinmal irgendwo beobachtet. Auch Gedanken, die beim Zuschauen emporsteigen. So etwas erfindet man nicht.

Karfreitag Abend, es regnet seit Stunden stark, franst dann etwas aus, um sieben Uhr schliesslich wage ich mich hinaus in den Regen, das Mittagessen habe ich ausgelassen, später der Regen, jetzt treibt mich der Hunger hinaus. Im „Leao do Rio“, übersetzt „Löwe des Flusses“, esse ich Fisch. Am Tisch gegenüber eine Familie mit drei Kindern zwischen drei und zehn Jahren. Die Mutter ist eine knackige, grosse Frau, üppig, mit Kurven, die Brüste extrem präpariert präsentiert, auch die Hüften, zwischen T-shirt und Hosen bleibt gewaltig viel Haut frei. Das Gesicht europäisch, eine Stupsnase, doch dunkle Augen und Haare, eine attraktive Frau, die das weiss und neckisch mit ihren Kindern spielt. Vielleicht sind es ja bereits die zwei kleinen Schwänzchen über den Ohren, die ihr ein keckes Aussehen verleihen. Der Ehemann unscheinbar und schweigsam, ein Indiogesicht, das ist hier selten, die Grossmutter sitzt ebenfalls am Tisch, seine Mutter sicherlich, Ostern, man feiert gemeinsam, auch hier.
Und isst Fisch am Karfreitag, das hat der französische Koch richtig getroffen, das Restaurant ist voll, die Leute warten auf leere Tische. Der etwas auffällige Mann, der mir unten am Fluss heute Morgen erst Angst gemacht hat - er hat mir vom Koch erzählt - ist auch hier und erkennt mich sofort. Suiça, da spräche ich Französisch, ganz klar. Wir seien doch Nachbarn. Intelligent ist er, obwohl er mit dem Sprechen etwas Mühe hat, auch die Bewegungskoordination klappt nicht so ganz, deshalb war mir der Mann erst unheimlich, als er plötzlich zwischen dem Gebüsch hervorkam. Der Koch also Franzose, ein Restaurant unten am Fluss, eines im Zentrum von Novo Airao. Ein grosser Typ mit einer etwas schiefen und zerdrückten Kochmütze, nervös ist er, so viele Gäste gleichzeitig, das hat er wohl noch selten gehabt. Er entschuldigt sich bei mir. Morgen solle ich wieder kommen. Ich bin vermutlich die einzige ausländische Touristin hier in Novo Airao über diese Ostertage und falle entsprechend auf. Vielleicht auch, weil ich alleine bin. Das scheint in Brasilien ebenso unmöglich zu sein wie in China, hier wird immer alles in Gruppen, meist Familienverbänden gemacht.
Ausländerin, das sieht man nicht unbedingt. Ein paar Mal werde ich heute nach dem Weg gefragt. Und kann teils sogar helfen, ich habe ja einen Tag Vorsprung. Nach einem Tag kennt man diesen Ort bereits recht gut.
Ein interessantes Studienobjekt ist der Ort, um die brasilianische Mittelklasse kennen zu lernen. Die Reichen nähmen eher einen Flug nach Recife oder ins Ausland über Ostern, meint Jobao. Alle kommen sie mit Autos, keinen billigen. Bereits um sechs Uhr abends sind ein paar Gäste des Hotels erheblich betrunken. Etwas verständlich, einen grossen Teil des Tages hat es geregnet, zum Teil sehr stark, die Leute blieben in ihren Zimmern und schalteten TV und Klimaanlage ein oder sassen im Regen ins Schwimmbad und tranken Bier. Ich mag ihnen das ja gönnen.

Wie kommt man als Ausländer dazu, sich in Novo Airao nieder zu lassen? Dies scheint mir nicht ein Ort, wo man hängen bleibt, weil er einfach paradiesisch ist. Und sich ein Hotel oder ein Restaurant baut oder sich sonst einen Erwerb sucht, um für immer dort bleiben zu können. Die hiesigen Einwanderer sehen auch nicht wie Aussteiger aus, die kalkulieren. Ein Ort mit grossem Entwicklungspotential. Eben gerade ist die Strasse fertig gestellt worden. Neben dem Tourismus, der nun zu einem Wochenendtourismus werden kann, wird das neue Siedler mit sich bringen. Echte Einwanderer eben. Nicht Träumer, die mit ihrem Traum irgendwo auf der Welt stecken bleiben, ihn realisiert fühlen. Für eine gewisse Zeit.

Neun Uhr abends. Auch die Nachbarn auf beiden Seiten sind bereits wieder zurück, Familien mit mittelgrossen Kindern, alle schlafen in einem Raum, das scheint hier kein Problem zu sein. Und stellen sofort den Fernseher an. Die Wände sind aus Holz, ich höre den Vater, der noch vor zwei Stunden ziemlich betrunken die Musik auf volle Lautstärke gestellt hat, laut gähnen. Vielleicht doch eine friedliche Nacht.





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