Dienstag, 12. April 2011

Bandeiranthe II, 9.April









Gegen 3 Uhr morgens drosseln die Schiffsmotoren, der Seemann war präzise, ich bin bereits wach und gehe an Deck. Die Scheinwerfer des Schiffes suchen das Ufer ab, noch ist es menschenleer, wir warten in der starken Strömung bis sich die ersten Leute zeigen. Die Landung in der engen Bucht ist schwierig, hier fahren die Boote nicht wie in Peru einfach mit dem Bug gegen das Land, das Schiff dockt seitwärts an einem grossen, gedeckten, metallenen Floss an, davor schwimmen mächtige Baumstämme, die eine weiche Landung garantieren. Mehrmals muss der Kapitän vorwärts und rückwärts manövrieren, bis der Schiffsbug endlich parallel zum Floss liegt. Ist wohl gestern doch etwas an der Steuerung beschädigt worden? Etwa 15 Passagiere stiegen aus, dadurch wird aber der Hängemattenraum nicht leerer, die müssen im untersten Deck mitgefahren sein. Darauf werden 4 neue Motorräder ausgeladen, eine kniffelige Sache, denn der Landesteg liegt schlecht und muss immer wieder verschoben werden, das Schiff bewegt sich ständig. Nun beginnt die Familie, die am Schluss noch ihren Hausrat aufgeladen hat, den wieder auszuladen, Kühlschrank Tisch und Stühle, ein Doppelbett und ein Kinderbett, ein Küchenschrank, ein Fernseher, Grillgeräte mehrere, eine Strassenküche vielleicht, und schliesslich noch eine riesige Parabolantenne. Gleichzeitig wird vom Land her ein ganzer Berg leere Bierharrassen eingeladen, alles über die gleiche Holzlatte, das funktioniert erstaunlich gut, ein paar Kartonkisten ebenfalls. Am Schluss werden noch die riesigen Plastikwasserbehälter, halbe Schwimmbäder sind das, aus dem Schiff ausgeladen. Alles von Hand, versteht sich. Zum dritten Mal tutet nun das Schiff, diesmal wird es ernst, die früheren Hornstösse tönten für mich eher wie ein „beeilt euch“ an die Mannschaft oder „wenn jemand noch kommen will dann soll er das jetzt“. Nach knapp einer Stunde legen wir ab. Der Mond ist inzwischen verschwunden, doch die Sterne leuchten immer noch am Himmel, eine klare Nacht, suchend tasten sich die Bootsscheinwerfer wieder auf das offene Wasser hinaus.

Morgens 8Uhr, ich habe offensichtlich nochmals gut geschlafen, geträumt auch, ich sei auf einer Lancha, nur das sie ganz anders aussah als in Wirklichkeit, und dies im Halbschlaf sogar bemerkt habe. Zum Frühstück gibt es Milchkaffee, leider bereits stark gesüsst, doch wenigstens warm, Brot mit Salzbutter bestrichen, Rührei und gekochten Maniok. Ich begnüge mich mit Kaffee und Weissbrot, immer noch ein flaues Gefühl im Magen, inzwischen niesen viele Leute auf dem Schiff, das Regenwetter seit einigen Tagen, gestern ein kurzer Unterbruch, heute bewölkt und leichter Regen. Nach dem Frühstück laufen wir Anapurà an, ein grosses Dorf oder kleines Städtchen. Oben am Hangabbruch die neuen gemauerten Quartiere, unten am Wasser Holzhäuser auf Stelzen. Häuser über dem Wasser, das scheint einem ursprünglichen Bedürfnis der Menschen zu entsprechen, bereits die Pfahlbauer haben so gebaut. Auch in Leticia war nur das ganze moderne Verwaltungszentrum und die neuen Wohnhäuser alle auf dem 10 bis 20 m hohen Uferabbruch, vor saisonalen Überschwemmungen geschützt, errichtet worden. Momentan wird in Leticia am Wasser eine breite, schön gestaltete Uferpromenade geschaffen, welche die Häuser dahinter vor den jährlichen Überschwemmungen schützen wird. Ob die Bewohner, insbesondere die Kinder, darüber glücklich sind, das weiss ich nicht, hygienischer ist es ganz bestimmt.

Auch in Anapurà wirft wieder derselbe Bootsjunge die Taue an Land, der mir die Steckdose zu flicken versuchte, ins Wasser getaucht ist und die Bootsschraube befreit hat, in der Küche sehe ich ihn zu den Essenszeiten, beim Abladen in der Nacht hilft er auch tatkräftig mit und heute morgen wischt er das Deck. Wird denn hier alle Arbeit dem Jüngsten überlassen? Er scheint nicht unglücklich darüber zu sein. Bei diesem Stopp steigen wiederum ein paar Leute aus, der Hängemattenraum ist nun halb leer, woher das Gerücht, in brasilianischen Schiffen sei es immer total überfüllt? Man sollte sich nicht auf solche Hinweise verlassen, das kann von Tag zu Tag ändern. Auch unser Frachtraum ist nun praktisch leer, nichts Neues wird eingeladen, einzig ein paar Kochbananenbüschel, die auf dem Landungssteg angeboten werden, wechseln den Besitzer. Ich überlege mir, ob ich Essbananen kaufen soll, tue es aber dann doch nicht, die riesigen Bündel wollen sie nie aufteilen, das ist mir zuviel, Vitamine später wieder. Anapurà fällt durch seine blaue Kirche auf, wir bleiben nicht lange an diesem Ort an der Mündung eines Seitenflusses.

Ich habe die Zeit verloren. Weiss zwar, dass ab der Grenze zu Brasilien die Uhren eine Stunde vorgestellt sind, auch mein Natel und mein Computer melden mir den Zeitwechsel – verspätet, ich habe ihn bereits manuell gemacht – und haben nun beide unterschiedliche Zeiten. Keine Ahnung welche die Richtige ist. Die Passagiere kommen wieder alle frisch geduscht und duftend, neu eingekleidet aus den Toiletten-Duschkabinen, bereits gestern Abend taten sie das, die müssen ja denken - ich versuche es dann in der Mittagshitze. Der Esstisch, steht in der Mitte zwischen den beiden Duschkabinenreihen hinten im Schiff, durch halbhohe Bretterwände davon abgetrennt und gegen die Küche zu offen. Ab und zu ein übler Geruch aus geöffneten Türen, unvermeidlich wohl, denn heute Morgen wurden sie gereinigt.

Santo Antônio do Iça, über die Zeit will ich nichts mehr sagen, ich habe sie ja verloren, irgendeinmal vor Mittag, nehme ich an, diesmal kaufe ich doch Bananen, die einzigen Früchte, die angeboten werden. Umgeladen wird wenig, zwei neue Motorräder werden ausgeladen, man sieht keine Ortschaft, doch eine neue Strasse schneidet sich durch den Abhang hinauf und ein Boot mit Bausand wir eben entladen, eine Ansiedlung entsteht.

Erstmals werden wir wieder von einem Militäraufgebot erwartet, eine Gruppe hoch gewachsener bewaffneter Männer entert das Schiff. Nochmals eine gnadelose Kontrolle, alles Gepäck wird durchsucht, die Leute im Hängemattensaal nehmen das gelassen, normal, Drogen und Kolumbien. Auch die Kabinen werden darauf von den ernst dreinblickenden Militärs durchsucht, die ganze Mannschaft, selbst in die Wassercontainer und unter die Deckenverstrebungen wird geguckt. Bei mir geht es diesmal gnädig ab, einzig meinen Pass muss ich zeigen, Schweizerin, okay, ich muss nichts auspacken. Auf dem Bardeck oben nähert sich mir dann einer der Militärs in Englisch. Allein unterwegs? Ein zweideutiger Blick, ein Charmeur ganz offensichtlich, sieht gut aus, die Brasilianer ganz allgemein, das wird gefährlich - so ernst ist das ganze also doch wieder nicht. Die Barmaid zieht einen Wegwerf-Plastikhandschuh über und bereitet einen Toast, mit der Hygiene scheint man es hier ernst zu nehmen, auch die Militärs zeihen sich welche über, bevor sie Gepäckstücke durchsuchen. Endlich verlassen die Uniformierten das Schiff, Daumen hoch von der Anlegestelle her, alles gut, endlich können wir gehen.

Ich nehme nun eine Dusche, gar nicht so schlimm, dann gibt es das Mittagessen. Das wird um 12 Uhr serviert, ich habe die Zeit wieder gefunden, das Telefon hatte recht, der Computer nicht, die Mahlzeit ist erstaunlich gut. Aus einer Luke im Boden holt der Schiffsjunge die Schüsseln empor, das habe ich mir doch gedacht, viel zu klein hier oben, die Küche muss gerade neben dem Maschinenraum liegen. Ein grosses Stück schmackhaftes Poulet, Reis, Teigwaren, da verzichte ich darauf, Bohnen und ein Salat aus Gurken und Tomaten, zum Dessert erst noch ein Stück Papaya, jeder nimmt soviel wie er will, ich bin überwältigt. Teller muss man nicht selber mitbringen, der Schiffsjunge betätigt sich jetzt als Tellerwäscher, ein älterer Dürrer trocknet sogar ab, wir kriegen sauberes Geschirr in der letzten Schicht, der Tisch wird immer für 10 Leute gedeckt. Gesprochen wird nicht während dem Essen, das wäre auch schlecht möglich, der Tisch steht ja genau über den Motoren, der Lärm hier ist ohrenbetäubend, doch auch oben in der Bar sitzen die Leute meist einzeln an den Tischen, nur vier Schwarze sitzen immer zusammen und spielen Karten. Brasilianer scheinen weniger kontaktfreudig zu sein als Peruaner - oder ist das eine voreilige Bemerkung? Ich selber bin ja auch nicht gerade offen mit den Leuten, mein Brasilianisch ist miserabel, finde ich, das muss man spüren, diese Unsicherheit.

Tonantins gerade nach dem Mittagessen, auch hier entsteht eine neue Hafenanlage. Nun regnet es wieder. Alles andere als einfach für die Passagiere, die ein- und aussteigen müssen, den rutschig verdreckten Abhang zu erklimmen. Ein kurzer Halt, Waren werden kaum verschoben unser Schiff bleibt halb leer.

Auf meiner Karte stelle ich fest, was mir von verschiedener Seite bereits angedeutet wurde, eine Unlogik, zweimal der Zusammenfluss zum Amazonas, das erste Mal – und einzig richtige, wie mir Antonio aus Iquitos beteuert – bei Nauta, als der Rio Maranon und der Rio Ucayali zusammenkommen. Ab der Grenze von Peru heisst dieser Fluss dann allerdings nicht mehr Amazonas, sondern Solimoes und wird erst zum Amazonas, wenn er nach Manaus mit dem Rio Negro zusammenfliesst. Nun streiten sich eben Peru und Brasilien über den Entstehungspunkt des Amazonas.

Eine Siesta in der Hängematte, ich fühle mich ziemlich matt, keine Medizin gegen Grippe im Gepäck, das Aspirin geht auch dem Ende zu. In meinem Reiseführer lese ich, dass in Brasilien mehr als 50 Prozent Weisse leben und darunter die Oberschicht zu finden ist, der Rest sind Mischlinge zwischen Schwarz und Weiss oder ganz Schwarz, nur eine verschwindend kleine Anzahl sind Abkömmlinge von Indianern. Das sieht man den Leuten bereits hier im Amazonasbecken an. Sie sind hoch gewachsen, ein Mongolischer oder eben Indigener Einschlag in den Gesichtern ist selten.

Nacht bereits. Eben gerade werden die Toiletten frisch geputzt, wieder der Schiffsjunge, danach schrubbt er die Küchenausgabe und lässt die Plastikplanen im Hängemattenraum für die Nacht hinunter. Vor dem Mond ziehen ab und zu helle Wolkenfetzen vorüber, manchmal verdichten sie sich zu dunklen Schatten und wenn diese grossflächig werden, so zeigt sich der Mond dahinter in einem hellen Kreis. Ich finde, er habe etwas zu genommen. Recht ist das, ich mag es, wenn aus der Finsternis die Ufer in seinem kalten Licht auftauchen. In meiner Hängematte schläft jemand, ich befürchte, es ist der betrunkene Junge, der mit ein paar Leuten beim letzten Stopp zugestiegen ist. Die Männer haben den ganzen Nachmittag in der Bar gebechert, bis der Steuermann, wie ich ihn nenne, Uniform trägt ja hier keiner, findet, es sei nun genug und sie hinunter schickt und ihre halbvollen Biere in den Fluss leert. Nach dem Nachtessen sehe ich den Jüngsten davon über die Reeling gebeugt sich erbrechen, das war wohl zuviel und seine Hängematte hat er dann auch nicht mehr gefunden.
Eine Frau schreit laut in ihr Telefon, muss sie ja, wenn sie die Schiffsmotoren und die Barmusik übertönen will, Empfang wieder einmal, wir sollten nächstens in Juntai anlegen, an den Ufern immer noch kein Licht. Den ganzen Nachmittag über sind wir durch praktisch unberührtes Gebiet gefahren, keine Spuren von Siedlungen, auch Schiffe kreuzen wir keine, ein endloses Netzwerk von Flussläufen, was Insel, was Festland, ich habe keine Ahnung. Doch, es gibt ihn noch, den unberührten Urwald in Brasilien. Und ein tolles Gefühl, sich vorzustellen, wie hier ein lärmendes kleines Schiff ganz einsam diese weite Landschaft quert, so weit das Auge reicht nur Wasser und Wälder und weiter Himmel. Etwas Verrücktes hat das, ich fühle mich sehr glücklich trotz meiner angeschlagenen Gesundheit.
Der Steward, so nenne ich nun den Schiffsmann, der mich immer zum Essen ruft und am Tisch dafür sorgt, dass alle genug kriegen und der Tisch sauber bleibt, meint, nein, an den Krach der Schiffsmotoren, an den habe er sich nicht gewohnt. Niemals könnte er schlafen hinten im Hängemattenraum, einzig in seiner Kajüte, sie liegt gerade vor meiner, gehe das, wenn er die Türe zuschliesse.

Endlich das Schiffshorn, nun sehe ich Lichter auftauchen, Juntai, ich muss auf meinen Beobachtungsposten, die Tage sind intensiv hier. - Diesmal docken wir nur kurz an einem bereits angelegten ungefähr gleich grossen Schiff an, es ist noch weniger gefüllt als unseres, für uns gibt es nichts zu tun, die Lichter der Ortschaft entschwinden bereits wieder und leuchten mit dem Sternenhimmel um die Wette. Im April und Mai seien die Schiffe oft fast leer, meint der Steward.

Eine Frau zeigt mir ihre am Ansatz eingerissene Hängematte, ich meine fragend „zu schwer“, das war nicht gerade diplomatisch, nein, die Kinder, meint sie. Ich leihe ihr Faden und Nadel, sie ist froh darum. - Zum Nachtessen gibt es die Reste des Mittagessens, das ist legitim, dazu neu ein Gericht aus Hackfleisch und Kartoffeln, das mir sehr gut schmeckt. Um die Teigwaren machen alle einen Bogen, die kriegen wir bestimmt morgen nochmals aufgetischt. Der Steward, der zuletzt isst, will sie auch nicht und verlangt nach Brot, in welches er die Hackfleischsauce einpackt. Ich sage „Hamburguesa“ und alle lachen. Auch die Kapitäne kriegen heute diese Speise. Der Steward bringt sie ihnen zusammen mit einer Thermosflasche hinauf, man sieht diese Leute nie auf dem Schiff, die vermischen sich nicht mit dem gemeinen Volk. Die Kapitänskajüten und das Steuerhaus sind hinter der Bar mit Gittertoren abgetrennt, kein Zutritt für Unbefugte.

Heute schliesst die Bar bereits um halb neun, ein nächster Stopp ist um elf Uhr vorgesehen, man will sich offensichtlich vorher noch etwas ausruhen. Ich bleibe allein an Deck. Plötzlich eine Berührung auf meinem Rücken, der Schiffsjunge schaut mich lachend an und verschwindet halb nackt im Kapitänsbereich.

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