Donnerstag, 2. Juni 2011

Pipa, 29. Mai





Hier erwache ich früh, die Sonne scheint bereits um halb sechs Uhr morgens durch die Lamellen der Fensterläden, wieder einmal ein Zeitwechsel, dafür ist es nun bereits um halb sechs Uhr abends finster. Mindestens wenn der Himmel bewölkt ist. Insgesamt der fünfte Zeitwechsel seit meiner Abreise aus der Schweiz, Fernando de Noronha war Europa eine Stunde näher und hatte für mich einen angenehmeren Tagsrhythmus mit späterem Sonnenuntergang. - Und ganz plötzlich, und eigentlich erstmals denke ich an die Schweiz und freue mich auf die langen Nächte dort im Juni auf meiner Dachterrasse. Schon bald ist es wieder soweit, die letzten Tage hier.

Ein paar Beobachtungen zu Brasilien. Charakteristisch hier scheinen mir grosse Styroporboxen, mit denen gekühlte Getränke praktisch überall hingeschleppt und verkauft werden, wo ein Tourist sich dies wünschen könnte. Man stelle sich vor: Zuoberst auf dem Matterhorn steht ein Mann mit einer Styroporbox und bietet dir ein kühles Bier an. Die zweite Auffälligkeit sind die Häubchen, die sich alle Leute, die etwas mit Essen zu tun haben über die Haare stülpen. Das habe ich so auffällig noch nirgendwo gesehen.

Eine weitere Besonderheit sind die luftgefüllten WC-Brillen. Über die Brille zieht sich eine robuste Plastikhaut - besonders hygienisch und einfach zu putzen scheint mir das ja nicht gerade - in der eine Polsterung oder mindestens Luft gespeichert ist. Letztere entweicht langsam und pfeifend aus der Brille wenn man sich darauf setzt. Sei dies ein Defekt oder so vorgesehen, das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. – Weshalb diese Erfindung gerade in Brasilien derartig verbreitet ist, bleibt mir schleierhaft. Hier sind doch die meisten Hinterteile gut gepolstert.

Heute Abend esse ich in Pipa ein rotes indisches Curry. Gestern habe ich eine mexikanische Guacamole gegessen, auf Salat serviert, auch das war korrekt und vor zwei Tagen habe ich ein peruanisches Ceviche ausprobiert. Das war zwar gut gewürzt, aber leider ohne gekochte Süsskartoffeln und Maiskörner serviert und nicht mit Zwiebelringen und Algen dekoriert. Doch ich bin zufrieden mit der Küche in Pipa. Äusserst international. - Ein schlechtes Zeichen für die brasilianische Küche: Wenn immer möglich wähle ich ausländische Restaurants. Doch halt, am Eingang des Ortes hat es ein ausgezeichnetes Restaurant, in welchem man die Speisen von einem riesigen Buffet auswählt und dann nach Gewicht bezahlt. Solche Restaurants sind in Brasilien am Mittag eine gute Option. Das Buffet am Eingang von Pipa ist wirklich ausgezeichnet. Nur leider verdauen sich die Speisen bei mir schlecht. Obwohl die brasilianische Küche wenig Zwiebeln und Knoblauch verwendet.
Was hingegen diskriminierend ist in Brasilien, ist die Tatsache, dass viele Restaurants ihre Speisen für zwei Personen anbieten. Paare sind hier offensichtlich derartig symbiotisch, dass sie selbst auswärts, wo das ja nicht unbedingt notwendig wäre, immer dasselbe essen. – Unangenehm ist dies für allein Speisende. Viele Gerichte werden gar nicht für eine Person gekocht. Wenn doch, dann kostet das mehr als die Hälfte. - Vom Aufwand her gesehen ist das ja verständlich - aber trotzdem unangenehm.

Avenida Baia dos Golfinhos, Delphinbucht, wenn ich das recht übersetze - gesehen habe ich dort zwar noch keinen - der Catwalk von Pipa. Samstag Abend, ich setze mich in eine Bar hangseitig der Strasse mit ausgezeichnetem Blick auf das Geschehen. „Filme pela televisao“, Fernsehfilm nenne ich das - viel besser noch - das Treiben auf dieser Strasse. Flaniert wird, die meisten Leute sehe ich mehrmals vorbei ziehen. Manche sind sich selbst und damit echt und schön. Doch viele spielen irgend etwas im Wissen, das sie beobachtet werden.
Ein Paar spaziert vorüber, er den Arm um seine Frau oder Freundin gelegt, auf der anderen Seite seine Mutter, ganz offensichtlich, die sich bei ihm einhängt. Eine Szene, wie sie wohl nur in Brasilien möglich ist, häufig sehe ich Paare und nicht nur blutjunge, die vom Mammi des Partners begleitet werden. - Ihr Mütter in der Schweiz. Alle, die Mühe damit haben, ihre Söhnchen abzugeben. Brasilien wäre ein Paradies für euch. Hier müssen die Mütter ihre Söhne nie abgeben. Und die Frauen wohl ein Leben lang mit den Schwiegermüttern zurecht kommen.

Oder all diejenigen, die etwas linkisch, etwas schwach auf den Beinen sind. Viele hat es davon, obwohl es noch gar nicht so spät ist. Alkohol? Mir scheint da häufig mehr im Spiel. Auch das unsicher sich bewegende Pärchen neben mir an der Bar. Die Frau um die vierzig, der Typ ein älterer Crooner, wie die Franzosen sagen, lange gewellte graue Haare, ein weisses langärmliges Hemd und Jeans. Beide bewegen sich auffällig, die Frau rührt stundenlang in ihrem Espresso herum, ihr geschminkter Mund bleibt meist offen und wirkt etwas verkrampft. - Auch die vier Norweger in der Bar grölen zu der Musik. Doch bei ihnen ist der Fall klar: Alkohol.

Zur Feier des Tages, es ist mein letzter Abend vor Rio, genehmige ich mir Frites zum Caipirinha. Der Barkeeper hier scheint gleichzeitig der Koch zu sein, er stülpt sich sein Häubchen über und barmant nun in dieser Montur. Eine rechte Weile dauert es, bis die Frites knusprig sind. Sein Aussehen scheint ihn nicht im geringsten in Verlegenheit zu bringen, er trägt das Häubchen mit Stolz, wie ein Kapitän seine Uniform.

Die Brasilianer und ihr Aussehen. Bekannt sind sie dafür, das Volk zu sein, das prozentual am meisten Schönheitsoperationen machen lässt. Viele Brüste scheinen mir hier doch recht unnatürlich aufgeblasen. Bei den Mündern ist es schwieriger, der negroide Einfluss, da möchte ich nichts wetten. – Doch umgekehrt scheinen mir die Brasilianer auch das Volk zu sein, das am unbekümmertsten seine Hässlichkeit zur Schau stellt. Das ist schon erstaunlich. Und verwirrend. Heute Morgen sehe ich eine Frau, deren eines Bein vom Knie an gänzlich verkümmert ist, Kinderlähmung vermutlich, mit einem kurzen Minirock. Wenn ich daran denke, dass Valéries Schwester in Paris bis heute, sie wird nun etwa 45 Jahre alt sein, noch nie einen Mann an sich heran gelassen hat aus lauter Angst, dass der ihr lahmes Bein sehe. Diese Frau jedoch zieht weder einen langen Rock an noch Hosen, sondern zeigt ihr Bein. Das Verhältnis der Brasilianer zu ihrem Körper gibt mir Rätsel auf.

Ich will noch Fotografien der bunten Felsen machen. Eigentlich hätte ich die mit einem Aquarell festhalten sollen, schwarz-weiss ist das schwierig umzusetzen. Am Sonntag ist der Strand stärker belebt, eine Unmöglichkeit, nun Fotos einer einsamen Küste zu machen.
Weshalb will ich eine menschenleere Bucht? Für Brasilianer scheint es doch gerade das Wichtigste jedes Ausfluges zu sein, Fotos von Personen, im allgemeinen sich selber vor malerischer Kulisse, nach Hause zu bringen. Deshalb sind alle Fremdenführer, selbst Kellner, zusätzlich gute Fotografen, denn ein Teil ihrer Arbeit besteht darin, die Gäste zu fotografieren. Immer setzten die Fotografierten ein Lächeln auf und werfen sich in Pose wie Schauspieler. Ist das wohl ernst gemeint? – Auch die Chinesen lieben es, sich zu fotografieren und setzten dabei ein Lächeln auf - doch haben sie dieses undurchdringliche und wohl bedeutungslose Lächeln sowieso immer im Gesicht, weshalb das viel weniger penetrant wirkt.

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